Leitlinie zu Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen

Die Leitlinie "Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen" wurde am 20. November 2024 von der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-Sucht) veröffentlicht. Sie bietet Fachkräften im Gesundheitswesen evidenzbasierte Empfehlungen für den Umgang mit Internetnutzungsstörungen (INS) und deren spezifischen Ausprägungen. Die wichtigsten Informationen finden Sie hier zusammengefasst.

Zielsetzung der Leitlinie

Die Leitlinie zielt darauf ab, den aktuellen Forschungsstand zu Screening, Diagnostik und Behandlung von INS darzustellen. Sie liefert praxisorientierte Handlungsempfehlungen für die generelle INS sowie für spezifische Unterformen wie Computerspielstörung, Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, Pornografie-Nutzungsstörung und Shoppingstörung. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Frühintervention, um Betroffene frühzeitig zu identifizieren und zu unterstützen.

Definition und Klassifikation von Internetnutzungsstörung

Internetnutzungsstörungen werden als Verhaltenssüchte klassifiziert, die durch einen Kontrollverlust über das Nutzungsverhalten, eine zunehmende Priorisierung der Internetnutzung gegenüber anderen Aktivitäten und das Fortsetzen der Nutzung trotz negativer Konsequenzen gekennzeichnet sind. Die Leitlinie differenziert zwischen verschiedenen Subtypen, darunter:

Screening und Diagnostik

Für die Identifikation von INS empfiehlt die Leitlinie den Einsatz standardisierter Screening-Instrumente und diagnostischer Interviews. Wichtig ist eine umfassende Anamnese, die sowohl das Ausmaß und die Art der Internetnutzung als auch psychosoziale Faktoren berücksichtigt. Die Diagnostik sollte multidisziplinär erfolgen und somatische, psychische sowie soziale Aspekte einbeziehen.

Screeninginstrumente bei Mediensucht für Jugendliche

In der S1-Leitlinie "Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen" werden verschiedene Screeninginstrumente für Jugendliche vorgestellt, die auf den Kriterien des ICD-11 und DSM-5 basieren. Ein zentrales Instrument ist die Compulsive Internet Use Scale (CIUS), ein Selbsttest mit 14 Aussagen, der das Ausmaß der Internetnutzung misst. Für Jugendliche ab 14 Jahren existiert eine validierte Langversion; zudem steht eine Kurzform mit 5 Kriterien zur Verfügung.

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Der Selbsttest für Jugendliche von "Ins Netz gehen" basiert auf den evaluierten Instrumenten CIUS und CSAS. Jugendliche erhalten darüber eine verlässliche und unabhängige Einschätzung zu ihrem Nutzungsverhalten digitaler Angebote.

Screeninginstrumente bei Mediensucht für Jugendliche

Auch die Skala zum Onlinesuchtverhalten (OSV-S) wird als valides Screeninginstrument empfohlen und liegt zudem als eine validierte Form für Kinder und Jugendliche vor (CSV-S).

Spezifisch für das Screening zu Computerspielstörung bei jungen Zielgruppen werden die Computerspielabhängigkeitsskala (CSAS) und die Gaming Disorder Scale (GADIS) genannt. 

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Das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf stellt auf seiner Seite www.mediensuchthilfe.info Fragebögen zur Selbsteinschätzung für Jugendliche und zur Fremdeinschätzung durch Eltern der folgenden Screeninginstrumente zum Download bereit:

  • Gaming Disorder Scale für Adoleszente (GADIS-A), 
  • Social Media Disorder Scale für Adoleszente (SOMEDIS-A) und 
  • Streaming Disorder Scale für Adoleszente (STREDIS-A).  

Diagnose-Kriterien nach ICD-11

Die ICD-11 (International Classification of Diseases, 11. Revision) definiert die "Computerspielstörung" (Gaming Disorder) durch drei Hauptmerkmale:

  1. Kontrollverlust: Beeinträchtigte Kontrolle über das Spielen, beispielsweise hinsichtlich Beginn, Häufigkeit, Intensität, Dauer oder Beendigung des Spielens.
  2. Prioritätensetzung: Erhöhung der Priorität des Spielens gegenüber anderen Lebensinteressen und täglichen Aktivitäten, sodass das Spielen Vorrang erhält.
  3. Fortsetzung trotz negativer Konsequenzen: Fortführung oder Eskalation des Spielens trotz des Auftretens negativer Konsequenzen.


Diese Verhaltensmuster müssen zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen und typischerweise über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten bestehen.

Diagnose-Kriterien nach DSM-5

Das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage) beschreibt die "Internet Gaming Disorder" anhand von neun Kriterien:

  • Starke gedankliche und emotionale Eingenommenheit: Intensive Beschäftigung mit Onlineaktivitäten.

  • Entzugserscheinungen: Auftreten negativer Zustände wie Unruhe, Angst oder Traurigkeit bei Verhinderung der Onlinenutzung.

  • Toleranzentwicklung: Notwendigkeit, die Häufigkeit und/oder Intensität der Onlineaktivitäten zu steigern, um Befriedigung zu erreichen.

  • Erfolglose Kontrollversuche: Wiederholte erfolglose Versuche, die Nutzung einzuschränken oder aufzugeben.

  • Verlust von Interessen: Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten der Internetnutzung.

  • Fortgesetzte Nutzung trotz negativer Konsequenzen: Weiternutzung des Internets trotz bekannter negativer Auswirkungen.

  • Täuschung anderer: Belügen von Familienmitgliedern oder Therapeutinnen/Therapeuten über das Ausmaß der Nutzung.

  • Nutzung zur Flucht: Verwendung des Internets, um negativen Stimmungen zu entkommen.

  • Gefährdung oder Verlust wichtiger Beziehungen oder Chancen: Gefährdung oder Verlust von Beziehungen, Arbeitsstellen oder Ausbildungsmöglichkeiten durch die Internetaktivitäten.

Für die Diagnose müssen mindestens fünf dieser Kriterien innerhalb eines Jahres erfüllt sein.

Unterschiede und Einordnung der Diagnosekriterien nach ICD-11 und DSM-5

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Klassifikationssystemen liegt in der Anzahl und Spezifität der Kriterien. Das DSM-5 listet neun spezifische Kriterien auf und erfordert das Vorliegen von mindestens fünf dieser Kriterien für eine Diagnose. Im Gegensatz dazu fasst die ICD-11 die Störung in drei übergeordneten Kriterien zusammen. Zudem betont die ICD-11 die Notwendigkeit signifikanter Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen und legt einen typischen Mindestzeitraum von 12 Monaten fest, während das DSM-5 einen Zeitraum von 12 Monaten ohne spezifische Mindestdauer angibt.

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Im Jahr 2018 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gaming Disorder (dt. "Videospielsucht") als Unterkategorie der Verhaltenssüchte aufgenommen und damit offiziell als Krankheitsbild beschrieben. Seit 2021 ist das Störungsbild in der "Internationalen Klassifikation der Krankheiten" (ICD-11) im Bereich der Verhaltens- und Neuroentwicklungsstörungen aufgeführt.

Bereits seit 2013 ist "Gaming Disorder" im DSM-5 als Forschungsdiagnose verankert.

Beide Systeme erkennen die potenziell schädlichen Auswirkungen exzessiven Spielens an, wobei die ICD-11 einen breiteren Fokus auf funktionale Beeinträchtigungen legt, während das DSM-5 detailliertere Verhaltenskriterien beschreibt.

Therapieempfehlungen bei Internetnutzungsstörung

Die Behandlung von INS sollte laut der Leitlinie individuell angepasst werden und kann verschiedene Ansätze umfassen:

  • Psychotherapeutische Interventionen: Kognitive Verhaltenstherapie hat sich bisher als besonders wirksam bei allen Formen der INS gezeigt. Eltern und Angehörige sollten bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen miteinbezogen werden.
  • Pharmakotherapie: In bestimmten Fällen kann der Einsatz von Medikamenten erwogen werden. Der Einsatz bezieht sich aber in der Regel auf komorbide Störungen wie beispielsweise Depression, Angststörung oder ADHS.
  • E-Health-Interventionen: können ergänzend oder präventiv stattfinden. Für die Behandlung von Kindern und Jugendliche

 

Die Leitlinie betont die Bedeutung eines integrativen Therapieansatzes, der sowohl individuelle als auch familiäre und soziale Faktoren berücksichtigt. Zudem wird die Einbindung von Präventions- und Frühinterventionsmaßnahmen hervorgehoben, um der Entwicklung schwerwiegenderer Störungen vorzubeugen.

Einordnung der Evidenz zur Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörung

Die S1-Leitlinie "Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen" bietet Fachkräften fundierte und praxisnahe Empfehlungen für den Umgang mit INS. Durch die Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse und die Bereitstellung spezifischer Handlungsempfehlungen trägt sie dazu bei, die Versorgung von Betroffenen zu verbessern und die Entwicklung von Internetnutzungsstörungen frühzeitig zu erkennen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Außerdem zeigt sie die Forschungslücken rund um die Diagnostik und Therapie von Mediensucht auf.

Bei dieser Leitlinie handelt es sich um Handlungsempfehlungen auf Basis informeller Konsensfindung, die von einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe der Fachgesellschaften erarbeitet wurden. Auch wenn im Rahmen der Erarbeitung mehrere systematische Literaturrecherchen zu den einzelnen Störungsbildern durchgeführt wurden, handelt es sich um Handlungsempfehlungen mit schwacher Evidenz, da es nur wenig belastbare Forschungsergebnisse im Forschungsfeld Internetnutzungsstörung gibt. 

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Die Leitlinie steht auf der Seite der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) zum Download bereit.